Im Jahre 2008 konnte die Stadt Rheinberg ihren 775. Geburtstag feiern. Mit der Verleihung der Stadtrechte 1233 wurde urkundlich verbrieft, was sich in den Jahren davor entwickelt hatte: eine günstig am Rheinstrom gelegene Ansiedlung, die zum Herrschaftsbereich der kölnischen Bischöfe gehörte.
Bei der hochwasserfreien und geschützten Lage unmittelbar am Rhein, einer der Hauptverkehrsadern des mittelalterlichen Deutschland, lag es nahe, dass Rheinberg sich zu einem großen Markt- und Handelsort entwickeln konnte. Dem standen aber die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse entgegen, denn Rheinberg war äußerster Stützpunkt des kölnischen Erzbistums, das von Rheinberg aus am Rhein entlang bis in den Westerwald reichte. Rheinberg wurde also Festung und auch Zollstation, mit der die Kölner Kurfürsten vom Warenverkehr auf dem Rhein profitieren wollten.
Mit der Festlegung als Festungsstandort war gleichzeitig eine wichtige Vorentscheidung für die Rheinberger Geschichte der kommenden Jahrhunderte gefallen. Rheinberg wurde in allen nachfolgenden Kriegen der frühen Neuzeit umkämpft, belagert, erobert und zerstört. Das gleiche Schicksal teilt die Stadt Orsoy – heute im Stadtgebiet Rheinbergs liegend -, das rund 40 Jahre nach Rheinberg die Stadtrechte verliehen bekam. Orsoy gehörte allerdings nicht zur Kurköln, sondern war südlichster Zollpunkte der Grafen von Kleve und konnte sich in dieser exponierten Lage gleichfalls wenig entwickeln.
Beide Städte wurden im 16. Jahrhundert zu für ihre Zeit modernen Festungsstätten ausgebaut, was allerdings Eroberungen und Verwüstungen nicht verhindern konnte.
Überhaupt dürfte das 16. und 17. Jahrhundert für Rheinberg die schlimmste Zeit seiner Geschichte gewesen sein, als es im Zuge der Truchseßschen und der spanisch-niederländischen Kriege Brennpunkt der Auseinandersetzungen war.
Erst die „Abrüstung“, die Ludwig XIV. verordnete, indem er hier überall am Rhein die Festungsanlagen zerstören ließ, verschafft Orsoy einige Jahrzehnte relativer Ruhe. Gleiches galt für Rheinberg, dessen Festungsmauern 30 Jahre später abgetragen wurden.
Die wirtschaftliche Belebung durch den Beginn der Industrialisierung ging allerdings an den kleinen Städten des Niederrheins auch fast spurlos vorüber. Dazu hat sicher beigetragen, dass sich der Rhein im 17. Jahrhundert im Orsoyer Rheinbogen ein neues Bett suchte und Rheinberg seine Anbindung an den Rhein durch die 1711 abgeschlossene Verlandung des alten Rheinarms verlor. Demgegenüber blieb Orsoy Hafenstadt und hatte ab etwa 1720 eine bedeutende Tuchfabrikation. Nachdem der größte Tuchhersteller nach 1820 die Fabrikation allerdings aufgab, kam dieser Gewerbezweig sehr bald wieder zum Erliegen.
Rheinberg blieb im 18. Jahrhundert ein ruhiges Landstädtchen. Infolge der fehlenden direkten Verbindung zum Fluss brachte der Ausbau des Rheins im ausgehenden 18. Jahrhundert keine wirtschaftliche Belebung.
Unsere Geschichtsschreibung und Forschung beginnt erst allmählich das Leben und Empfinden der Bürger der Städte und Dörfer in den vergangenen Jahrhunderten zu beschreiben, soweit dies überhaupt möglich ist. Daher wissen wir noch zu wenig über die Lebensumstände der einfachen Menschen jener Tage. Durch Rechnungen und Steuerbescheide, aber auch durch die Protokollbücher der Pumpennachbarschaft wissen wir, dass die Lebensumstände oft kärglich waren, jedoch bei besonderen Anlässen lang und umfassend gefeiert wurde. Bei den erwähnten Pumpennachbarschaften handelt es sich um Zusammenschlüsse der Nachbarn einzelner Straßenzüge bzw. Stadtteile, die in Rheinberg eine wichtige Rolle im sozialen Leben der Bürger spielen. Entstanden aus der gemeinsamen Wasserversorgung haben diese Institutionen, die es früher häufiger gab, in Rheinberg ihren Bestand halten können. Dies zeigt auch etwas von dem Traditions- und Geschichtsbewusstsein unserer Stadt.
Die Revolutionskriege und die Übernahme des linken Niederrheins durch Frankreich brachten zwar wieder Unruhe, zugleich war damit aber auch eine Aufhebung der alten Lasten und Ungleichheiten verbunden. Mit dem Ende der Ära Napoleon wurde Rheinberg preußisch und hatte damit nun den gleichen Landesherrn wie Orsoy.
Rheinberg war nicht mehr Zoll- und Grenzstation, aber der rechte wirtschaftliche Aufschwung wollte sich nicht einstellen. Eine Ausnahme blieb die Magenbitterfabrikation, die den Namen Rheinberg mittlerweile in die ganze Welt hinausgetragen hat.
Auch das 19. Jahrhundert belässt Rheinberg in seiner beschaulichen Ruhe, große überörtliche Bedeutung kann Rheinberg weder im Handel, im sonstigen Dienstleistungsbereich noch in der Administration gewinnen.
Währen die kriegerischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts fast spurlos an Rheinberg vorübergingen, musste die Stadt dafür im 20. Jahrhundert die Talsohle deutscher Geschichte durchwandern. Die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges, die belgische Besatzungszeit, der wirtschaftliche Niedergang und schließlich die Verfolgung und Unterdrückung im Dritten Reich und den Zweiten Weltkrieg. Allerdings begann ab 1900 auch eine stärkere Wirtschaftsbelebung: durch Ansiedlung des Solvay-Konzerns im Norden wurde die bisherige industrielle Monokultur durchbrochen.
Nach 1945 kamen andere Industriezweige hinzu, z.B. die Textilherstellung, die ihren Bestand aber nicht halten konnte.
Es ist so, als ob sich die Stadt mittlerweile gegen eine allzu sprunghafte Entwicklung wehrt. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass unsere Städte und Gemeinden durch ihre Geschichte ebenso geprägt sind, wie jeder einzelne von uns durch seine persönlich Entwicklung beeinflusst wird. Möglicherweise ist deshalb in Rheinberg das Gefühl für die Notwendigkeit einer behutsamen Entwicklung besonders ausgeprägt, und wir können in diesem Zusammenhang auch den Kampf vieler Rheinberger gegen die Ansiedlungswünsche der VEBA stellen, die aus dem Orsoyer Rheinbogen ein gigantisches Industrieareal machen wollte. Die Ansiedlungspläne scheiterten wahrscheinlich eher aus wirtschaftlichen Zwängen als durch den Kampf vieler Rheinberger Bürger, der aber immerhin auf kommunalpolitischer Ebene noch lange Nachwirkungen zeigt.
Durch den heutigen Massenverkehr – Rheinberg hat gewissermaßen als Ersatz für den verlorenen Rheinzugang mittlerweile einen Autobahnanschluss bekommen – und durch die allgegenwärtigen elektronischen Medien sind die Zeiten der ruhigen, idyllischen Landstädtchen in Rheinberg wie überall sonst wohl endgültig vorbei. Ob dies eine nur positive Entwicklung ist , werden erst Generationen nach uns entscheiden können.
Aus: „Der Niederrhein“. 55.Jahrgang, Oktober 1988, Heft 4, von Dr.Ulrich Springorum. Redaktionelle Bearbeitung Stadt Rheinberg, 2008.
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